Akira

Einmal fuhr ein Fischer in eiskalter Nacht hinaus aufs Meer. Es war schwarz wie der Himmel, allein eine schmale Mondsichel zwischen den Wolken warf zuweilen ihren matten Glanz auf die spiegelglatte Oberfläche des Wassers. Vorsichtig ob der Dunkelheit navigierte der Mann sein kleines hölzernes Boot durch die See, langsam den Eisschollen ausweichend. 

 

Da brach plötzlich der Himmel auf, der Mond zeigte sich in silberglänzender Schönheit, seine Sichel eine Leuchte in der Dunkelheit, als der Fischer Gestalten auf einer Eisscholle unweit vor ihm vernahm. Sie bewegten sich grazil, erst traute er seinen Augen kaum, doch je weiter er sich näherte, dem Schauspiel entgegen, desto klarer wurde es ihm: Sieben Frauen tanzten vor ihm auf dem Eis, nackt und anmutig in der Nacht. Als er fast bei ihnen war, bemerkten sie ihn. Schnell griffen sie zu Robbenfellen, schlüpften hinein wie in Mäntel und tauchten hinab ins Wasser, wo sie sofort verschwanden. Gerade wollte die letzte von ihnen springen, da griff der Fischer nach ihrem Fell und nahm es an sich. Er sagte: „Werde meine Frau!“ Die Nackte stand da mit weißer Haut im Schein des Mondes. Sie zögerte und sagte: „In Ordnung. Aber gib mir zurück was mir gehört.“ Der Fischer erwiderte: „Ich gebe dir deinen Pelz. Aber werde meine Frau.“ Da stieg sie zu ihm ins Boot und sie fuhren in seine Hütte.

 

Kurze Zeit später wurde die Frau schwanger. Sie gebar einen Sohn und nannte ihn Akira. Sie bat den Fischer inständig, er möge ihr endlich ihr Fell zurück geben, wie er es versprochen hatte, doch dieser vertröstete sie wieder und wieder. „Nächsten Monat,“ sagte er, „nächsten Monat bekommst du es. Ganz bestimmt.“ Der Frau aber ging es mit jedem Tag schlechter. Ihre Haut wurde fahl, das Haar ergraute und sie schrumpfte. Mit jedem Tag alterte sie sichtbar, das Leben schien aus ihr zu weichen. Akira war nun sieben Jahre alt und sorgte sich sehr um seine Mutter.

 

„Ich brauche mein Fell,“ flüsterte sie ihm eines Abends zu. Akira schlief schlecht ein in jener Nacht, er hatte unruhige Träume aus denen er plötzlich erwachte. Er stand auf und bemerkte, dass sich seine Mutter nicht mehr in der Hütte befand.

 

Er konnte nicht wissen, dass sie geweckt worden war von einer Stimme, die er noch nicht kannte. Am Strand hatte die Stimme den Namen seiner Mutter gerufen, immer und immer wieder, bis sie den Rufen gefolgt war. „Hier ist dein Fell,“ hatte sie gehört und es versteckt zwischen zwei Felsen gefunden, endlich.

 

Im selben Augenblick, gerade als seine Mutter in ihr Fell schlüpfte, kam Akira an den Strand gelaufen. Er war außer Atmen und schwitze, der schneidenden Kälte der Nacht entgegen. Der Mond schien. Der Junge hatte seine Mutter noch nie so jung gesehen. Ihr Haar war nicht mehr grau. Strahlend stand sie vor ihm. Es schien sogar, als sei sie gewachsen. Sie sagte: „Akira, ich muss gehen. Doch ich komme zurück, wenn es an der Zeit ist.“ Heiße Tränen rannen über Akiras Gesicht. Er wusste, dass sie nicht aufzuhalten war. Dennoch flehte er sie an, nicht zu gehen. Sein Herz tat ihm weh. „Ich komme wieder,“ sagte sie, „für dich.“ Und dann tauchte sie hinab in das Meer, aus dem sie gekommen war.

 

Nach der nordischen Erzählung "Sealskin, Soulskin".